Theorie des Autoritären Charakters

Inwiefern lässt sich die Theorie des Autoritären Charakters der Kritischen Theorie auf die
heutige Gesellschaft anwenden? – Dokumentation einer Session auf dem IsraelSoliCamp 2016

1.1 Geschichte:

  • 1923 Studie „Arbeiter und Angestellte in der Weimarer Republik“ von Erich Fromm.
  • 1936 in Paris veröffentlichte »Studien über Autorität und Familie« von Max Horkheimer, Erich
    Fromm und Herbert Marcuse.
  • Ende 1940er in den USA veröffentlicht „The Authoritarian Personality“ von Theodor W. Adorno.

1.2. Bildung von Autorität nach Fromm:

  • Autorität ist nicht nur erzwungen bzw. Autorität ist die „gefühlsmäßige Bindung einer
    untergeordneten zu einer übergeordneten Person“ (Fromm, S.79).
  • Unterscheidung: Fördernder Autorität: z. B. Schüler ↔ Lehrer = Wissensgewinn und
    Hemmender Autorität: z. B. Soldat↔ Offizier = Ausbeutung.
  • Fromm rezipiert die Theorie Sigmund Freuds mit Ich, Es und Über-Ich:
  • Es: „ursprüngliche Form des seelischen Apparates“ (Fromm, S. 81), Leidenschaft, Triebstruktur
  • Ich: Vernunft, Besonnenheit, zuständig für Verdrängung, durch Außenwelt beeinflusst
  • Über-Ich: „moralisches Gewissen“ (Freud), Schutz des Ich gegen das Es.
  • Autorität entsteht durch Verinnerlichung der Regeln des Vaters im Über-Ich aufgrund des
    Ödipuskomplex (= Sexualneid des Sohns auf den Vater im Kampf um die Mutter).
  • Verinnerlichung der äußeren Gewalt am Beispiel des Vaters in der Kleinfamilie:

„Durch Identifizierung mit dem Vater und Verinnerlichung seiner Ge- und Verbote wird das Über-Ich
als eine Instanz mit den Attributen der Moral und Macht bekleidet.“ (Fromm, S.84), Grundlage für
Anerkennung von Autorität im weiteren Leben → Rationale Kritik an Autorität ist nicht möglich.

  • Autorität wird mal als „lastender Druck“, mal als „beglückende Bereicherung“ empfunden.
  • „Das Verhältnis Über-Ich : Autorität ist dialektisch.“ (Fromm, S.85) Über-Ich verinnerlicht Autorität
    → Autorität wird verklärt → Ideal wird wieder verinnerlicht.
  • „Autorität und Über-ich sind […] nicht zu trennen.“ (Fromm, S.85).
  • äußere Autorität (Gewalt und Macht) notwendig für „Fügsamkeit und Unterwerfung“ (Fromm, S. 87)
    Über-Ich verinnerlicht äußere Gewalt →Aufbau einer inneren Instanz, die zu Gehorsam zwingt.
    → Fromm geht über Freud hinaus: Vater ist ohnmächtigen Teil der Gesellschaft, der Autorität weiter
    gibt → „Familie als Agentur der Gesellschaft“ (Fromm, S.87).
  • Über-Ich bewahrt Traditionen. Fühlen, Denken und Handeln der Menschen keine „natürlichen
    Gegebenheiten“, sondern wesentlich durch „gesellschaftliche Struktur“ bestimmt.

1.3 Autoritäre Persönlichkeit:

  • Der Autoritäre Charakter umfasst sadistische und masochistische Züge:

  • sadistischer Charakter: will Unterworfenem persönlichen Willen rauben und dessen
    Bedürfnisse für sich instrumentalisieren.

  • masochistischer Charakter: Lust an der Unterwerfung, Aufgabe der Persönlichkeit.

  • Autoritären Charakter enthalten beide Elemente: Führer unterwerfen sich z. B. einem Gott.

  • Autoritäre Personen neigen zu Schwarz-Weiß-Denken und eindeutiger Akzeptanz oder Ablehnung.
    anderer Menschen → Mangelnde Differenzierungsfähigkeit, Engstirnigkeit → Verzerrung der
    Realität ( stereotype Kategorisierungen kann Realität nicht beschreiben).

  • Autoritäre Persönlichkeiten zeigen strenge Konformität zu kulturellen Klischees.

  • Mangel an persönlicher und sozialer Identität und inneres Chaos wird durch Stereotypisierung und
    absolute Gültigkeit bekämpft.

  • Ethnozentrismus: „Die Aufwertung des Eigenen bei gleichzeitiger Abwertung des Anderen“ (Mitte
    Studie, S.11).

  • Charakteristika Ethnozentrismus: Externalisierung eigener Probleme → Projektion auf natürliche
    und soziale Umgebung, übermäßige Machtorientierung → Aberglaube, Verschwörungsdenken →
    Aufgabe der Identität → Anfälligkeit für Propaganda.

  • „Selbst ihr Hass ist beweglich und kann von einem Objekt auf ein anderes übertragen werden. Wir•
    würden daher solche Individuen überschätzen, wenn wir ihr Verhalten als durch politische,
    wirtschaftlichen oder sozialen Eigennutz gesteuert sähen.“ (Frenkel-Brunswik, S.253)
    Adorno beschreibt als Merkmale: Konventionalismus, Autoritäre Unterwürfigkeit, Autoritäre
    Aggression, Anti-lntrazeption, Aberglauben & Stereotypie, Machtdenken & Kraftmeierei.
    → Das Auftreten von vielen Menschen mit Autoritärem Charakter heißt nicht, das ein totalitäres
    System vorliegt.

  • Analyse: Ergebnisse der Leipziger Mitte-Studie

  • Die Zustimmung zu autoritären Aussagen ist relativ hoch

35,4% Wunsch nach starkem Nationalgefühl → Selbstaufwertung, Bestandteil des Ethnozentrismus,
26,2% Fordern Durchsetzung von deutschen Interessen gegen andere → Abwertung anderer,
Bestandteil des Ethnozentrismus.
Hohes Vertrauen in Polizei und Justiz: 65,5% bzw. 54,0% → Elemente denen man sich unmittelbar
unterwirft → befriedigt masochistischen Teil des Autoritären Charakters.
Geringes Vertrauen in Kirche und Parteien: 31,1% bzw. 21,1% → sind nicht so mächtig wie erwartet
→ ungenügende Legitimation als Autoritäten → Unterwerfung nicht befriedigend.
10,9% Zustimmung: „Juden haben zu viel Einfluss“ → Externalisierung von Problemen.

  1. Fazit:

  2. Der Autoritäre Charakter hat einen wichtigen Beitrag zur Kritischen Theorie der Gesellschaft und
    zum Verständnis des Nationalsozialismus geleistet.

  3. Es wird deutlich, dass Menschen auch heute Merkmale des Autoritären Charakters aufweisen.

  4. Die Theorie lässt sich allerdings nicht direkt auf die heutige Gesellschaft übertragen, da die
    Autoritätsbildung über die patriarchale Kleinfamilie beschrieben wird, die aber heute nicht mehr in
    dieser Form existiert.

  5. Theorie lässt sich aktualisieren: Autoritärer Charakter bildet sich nicht aufgrund des
    Ödipuskomplex, sondern wegen der narzisstischen Kränkung durch Ohnmachtserfahrungen im
    kapitalistischen Alltag → irrationale Reproduktion wird verdrängt → Bildung des Autoritären
    Charakters.

  6. Allgemeine Kritik: sehr auf männlich Personen fixiert, Frauen kommen gar nicht vor.

  7. Quellen:
    Brähler, Elmar et al. (Hg.)(2016): Die enthemmte Mitte: autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland: Die Leipziger „Mitte“-Studie 2016. 2. Aufl. Gießen : Psychosozial-Verlag.
    Dubiel, Helmut (2001): Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. 3. Aufl. Weinheim: Juventa Verlag.
    Frenkel-Brunswik, Else (1996): Studien zur autoritären Persönlichkeit : ausgewählte Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Dietmar Paier. Graz [u.a.] : Nausner & Nausner.
    Fromm, Erich (1987 [1936]): Sozialpsychologischer Teil. In: Max Horkheimer et al.: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem
    Institut für Sozialforschung. Schriften des Instituts für Sozialforschung. Bd. 5. 2. Auflage. Lüneburg: Dietrich zu Klampen Verlag. S. 77 – 135.
    Weyand, Jan (2000): Zur Aktualität der Theorie des autoritären Charakters. In: jour fixe-initiative berlin (Hg.): Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft. Münster: Unrast Verlag. S.55–76.